[:de]Ahmad Mansour wurde als Jugendlicher zum Islamisten. Er beschreibt, wie er sich von den Verführungen des Fundamentalismus abwendete.

Teil 1

Von Ahmad Mansour

Gerade mal 13 Jahre war ich alt, ein schüchterner Junge mit wildem Lockenkopf, als ich ein junger Islamist wurde. Ich spielte gern Fußball, und weil wir beim Kicken viel Lärm veranstalteten, hatte ich mich ständig mit meinen Großeltern in der Wolle. Am Saum des staubigen arabischen Dorfes nahe bei Tel Aviv endete die Welt, die ich bis dahin gekannt hatte. All das ist fast 24 Jahre her. In der Schule war ich gut, aber ich fand nur schwer Freunde. Oft stand mir meine Schüchternheit im Weg. Umso geschmeichelter fühlte ich mich, als sich plötzlich unser örtlicher Imam und Religionslehrer für mich interessierte. Er hielt mich auf dem Schulweg an und suchte das Gespräch mit mir. Dass ich ein guter Junge sei, versicherte er mir, dass in mir das Potenzial zu Größerem stecke. Er verkündete mir: „Der Islam braucht dich, mein Sohn!“ Mit großen Augen und offenen Ohren hörte ich seine Worte.

Bald darauf sprach er eine verheißungsvolle Einladung aus: Ich solle seinen Koranunterricht besuchen. Nur zu gern folgte ich dem eindrucksvollen älteren Mann mit dem Bart und den buschigen Augenbrauen. Auf einmal war ich einer der Auserkorenen. Meine Eltern waren zwar nicht sehr begeistert, sie waren zu der Zeit eher antireligiös, aber es war ihnen lieber, ich lernte etwas, anstatt mich wie unser Nachbarsjunge der dörflichen Jugendgang anzuschließen.

Direkt in der Nachbarschaft lag unsere lokale Moschee, ein weiß getünchter Bau mit bescheidenem Minarett und türkisgrünem Tor. In den kühlen Kellerräumen fand der Unterricht statt, zu dem wir uns jeden Donnerstag nach dem Abendgebet versammelten. Ich fand es dort irgendwie gemütlich mit all den Teppichen und gerahmten Suren, und ich genoss die Kühle in den heißen Tagen unseres israelischen Sommers. An die ersten Stunden erinnere ich mich noch heute gern. Neue Welten taten sich auf, und es war eine Art geistiger Sport, sich darin zu üben, die arabischen Worte des Korans richtig auszusprechen. Wir alle lernten von unserem Imam die komplexe Grammatik des Hocharabischen, und wir lauschten seinen Auslegungen. Besonders faszinierten mich die betörenden Schilderungen des Paradieses mit seinen Gärten der Wonne, den frischen Quellen und vielen Annehmlichkeiten. Als ich hörte, dass ich zu einem Volk zählte, das einmal groß und mächtig war, löste das in mir ein ungeahntes Hochgefühl aus. Das Beste aber war: Endlich fand ich Freunde! Uns einte eine gemeinsame Mission.

Mit der Koranschule erweiterte sich auch mein räumlicher Horizont. Zum ersten Mal kam ich über die engen Dorfgrenzen hinaus. In einem klapprigen Bus fuhr unsere Gruppe zu Islamseminaren in anderen Städten, wo wir andere Imame mit Superstar-Status erlebten. Wir begleiteten unseren Imam zu Hochzeiten oder machten einfach Ausflüge an einen See oder zu einer heiligen Stätte. In mein ödes Dorfleben war Bewegung gekommen.

Aber schon nach einer Weile änderte sich der Charakter der Lektionen. Plötzlich ging es nicht mehr um poetische Suren oder arabische Grammatik, sondern um bedrohliche Szenarien. Der Imam beschwor eine weltweit unterdrückte Umma, eine Gemeinschaft der Gläubigen, die für die Befreiung Palästinas kämpfen sollte. Eindringlich sprach er vom Fluch, der auf den Juden laste, von der unausweichlichen Wiedereroberung Spaniens – und damit der Islamisierung Europas. Sünden spielten jetzt eine riesige Rolle, und unser Imam kam in Fahrt: Frauen! Eine gefährliche Sache. Frauen anschauen: verboten. Ihnen die Hand geben: verboten. Unverschleierte Frauen? Sind der Hölle geweiht. Ab da durften wir unsere Mitschülerinnen nicht mehr heimlich anhimmeln. Sie wurden vielmehr zu Feindinnen, Wesen, die uns zu unreinen Dingen verführen wollten. Die wirklich hübschen Frauen und Mädchen zu verachten fiel mir sogar leichter, als mein Interesse an ihnen zuzulassen – sie schienen ohnehin unerreichbar. Der Verdammnis preisgegeben war im Übrigen auch jeder Nachbar, der irgendwo nebenan heimlich Alkohol trank.

Arabische Mädchen, Juden und trinkende Dorfgenossen, das kannten wir. Doch der Imam eröffnete uns, dass es noch weitaus mehr Feinde in der Welt da draußen gab. Christen, Amerikaner, Europäer, Nationalisten, Kommunisten! Allesamt unsere Gegner, allesamt des Satans. Ihnen allen stehe ein grausamer Tod bevor, die schlimmsten Qualen der Hölle. So predigte unser Imam. Um den Respekt vor seinen Worten zu maximieren, stellte er uns Koranschüler eines Tages auf eine drastische Probe.

Zu später Stunde waren wir mit seinem alten Wagen zu unserem Dorffriedhof gefahren. Als wir ausstiegen, sahen wir in der Dunkelheit das Mäuerchen des Friedhofs. Die ganze Gruppe ging dem Imam hinterher, der murmelnd Suren sprach. Um uns war nichts weiter als das silberne Mondlicht, das die Pfade zwischen den Gräbern erleuchtete, bis wir vor einem offenen, frisch ausgehobenen Grab standen. Da befahl uns der Imam, uns im Halbkreis um die Grube zu stellen.

Erschienen bei Zeit

AHMAD MANSOUR
Der Psychologe und Islamismusexperte Ahmad Mansour ist ein gebürtiger palästinensischer Israeli. Er arbeitet für die Gesellschaft Demokratische Kultur in Berlin. Dort betreut er in der Beratungsstelle HAYAT unter anderem Angehörige von Jugendlichen, die sich radikalen Salafisten angeschlossen haben. Hayat ist ein Partner vor Ort des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Er ist außerdem Programm Direktor der European Foundation for Democarcy. Mansour war bis 2013 Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. 2015 erschien sein Buch Generation Allah: warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen.

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