Für mich war das fast ein traumatisches Erlebnis. Aber keiner von uns, auch ich nicht, brach aus, alle blieben dem Imam und seiner Lehre treu. Viel zu attraktiv waren der Zusammenhalt der Gruppe, der erhebende Anspruch, das Leben des Propheten Mohammeds nachzuahmen, die Orientierung und Struktur, die ich erlebte. Ich bekam das Gefühl, im Besitz einer überlegenen Wahrheit zu sein, die anderen verborgen war. Meine Angst vor der Hölle kam mir sinnvoll vor: Sie bewahrte mich vor sündhaftem Begehren. In der fundamentalistischen Ideologie fand ich Sicherheit, wenn auch keine Selbstsicherheit.
Als eben dieser Imam nach dem Tod seiner Eltern der eigenen Schwester im Namen von Allah das Erbteil verweigerte, während er im Unterricht doch hochtönend über die Gerechtigkeit referiert hatte, die jeder gute Muslim walten lassen sollte, stieg in mir Skepsis auf. Mein Eindruck von seiner Doppelmoral bestätigte sich immer mehr, und mir dämmerte, dass uns der Prediger nur benutzte, um von der Bürgerversammlung erneut gewählt zu werden. Mit der inneren Distanzierung begann ein Ausstieg auf Raten, zu dem auch die Tatsache beitrug, dass mein Interesse an Mädchen über die Angst vor der Hölle siegte. Dass ich aus der verheerenden Ideologie komplett wieder herausfand, war mein Glück. Kaum ein anderer aus meiner Koranschule hatte die Chancen, die ich erhielt, die meisten sind bei ihrer Ideologie geblieben, etwa als Anhänger der Muslimbruderschaft oder des Salafismus.
In den Jahren des Psychologiestudiums an der Universität Tel Aviv fing ich an, Freud zu lesen, mich mit Geschichte und Soziologie zu beschäftigen und mit anderen Studenten zu diskutieren. Sukzessive löste ich mich von der Autorität der Imame ab. Diese Befreiung war ein langer Prozess, und noch jetzt tauchen manchmal Schuldgefühle auf, wenn ich ein Glas Wein trinke. Nur, dass ich heute darüber lächeln kann.
Zum Diplomstudium kam ich 2005 an die Humboldt-Universität zu Berlin. Hier in der Stadt arbeite ich inzwischen seit Jahren an Projekten mit, die sich der Aufklärung von und dem Dialog mit muslimischen Mitbürgern widmen. Wir diskutieren mit Jugendlichen und Erwachsenen über Radikalisierung, über Antisemitismus, oder Gewalt in der Erziehung. Oft erlebe ich, wie im Gespräch bei jemandem der Groschen fällt, wie sich der Funke des Selberdenkens entzündet.
Umso mehr erschreckt mich, was sich in diesen Tagen in Deutschland tut. Radikale Varianten des Islam breiten sich in migrantischen Milieus und unter einigen Deutschen so schleichend wie wirksam aus. Salafisten wie mein damaliger Imam gehen auch hier inzwischen auf Kinderfang. Prediger wie Abu Nagi oder Pierre Vogel und deren Anhänger bieten Kindern und Jugendlichen Zuflucht, Akzeptenz und Orientierung. Technisch haben sich die Methoden verändert, inhaltlich nicht. Im Internet finden junge Leute mit wenigen Klicks die Webseiten, die ihnen – auf Deutsch – einen Islam anbieten, der Reinheit verspricht. Design und Sound der Videos lehnen sich an Videospiele an. Bärtige Salafisten in langen Gewändern agieren als selbst ernannte Streetworker, die Jungen und Jugendliche von Crack und Alkohol weg zu ihrer Gemeinde holen, wo sie Religion als Ersatzdroge im Angebot haben: „Mit Allah kannst du mehr aus dir machen!“ Von Eltern deutscher Konvertiten höre ich bei Workshops Klagen, Jugendliche weigerten sich, ihren Geburtstag zu feiern, weil das haram – unrein – sei; sie wollten an Weihnachten und Ostern mit der Familie nichts zu tun haben.
Inzwischen hat das Innenministerium zwar mehrere salafistische Vereine wie „DawaFFM“ und „Islamische Audios“ wegen Verfassungsfeindlichkeit verbieten lassen und aufgelöst. Doch die Köpfe sind noch da, neue Vereine sind schnell gegründet. Zu den organisierten Salafisten werden etwa 10 000 Menschen in Deutschland gezählt, ihr sympathisierendes Umfeld muss man als mindestens zehnmal so groß einschätzen.
Teil 1[:]