Haben sich Jugendliche einmal der Autorität der Salafisten ergeben, werden sie wie in einer Sekte zu willenlosen Marionetten, von eiserner Hand geführt. Kritisches Denken wird systematisch unterbunden. Der Allah, der ihnen präsentiert wird, lässt nicht mit sich reden. Zweifel sind tabu. Individuelle Gefühle sind tabu. Den Verführern nutzt es, dass meist auch das gängige Islamverständnis eines „Mustafa-Normal-Muslims“ autoritäre Züge aufweist. Eine an Kontrolle orientierte Erziehung, die auf Kollektivität und Respekt vor Autorität abzielt, verstärkt die Anfälligkeit von Jugendlichen für jene, die ihnen sagen: So und so musst du dich verhalten, das darfst du, das darfst du nicht. Bei einigen Salafisten geht das so weit, dass sie Jugendlichen vorgeben, mit welchem Fuß man die Toilette zuerst betreten soll, weil Mohammed es angeblich immer genauso gehalten habe. Demokratie ist in ihren Augen Teufelszeug, das zu Schwulenehen und anderen Sünden führt. Von „normaler“ Frömmigkeit über zwanghafte Ideologisierung bis zum gewaltbereiten Fundamentalismus sind die Übergänge fließend.
Auf dem Hintergrund meiner Erfahrungen plädiere ich dafür, den Salafismus viel genauer zu beobachten und seine Ideologien klarer zu analysieren. Die Gesellschaft sollte sich nicht in die Irre führen lassen und nur darauf achten, ob Salafisten und Islamisten das Bombenlegen preisen. Tatsächlich sind gewaltbereite Dschihadisten noch in der absoluten Minderheit, sogar unter Salafisten. Doch die Fixierung der Sicherheitskräfte auf den Jargon der Gewalt führt dazu, dass andere demokratiefeindliche Inhalte unbeachtet bleiben. Manchmal wird sogar ein Imam, der ein reines Lippenbekenntnis zur Demokratie ablegt, als deren Stütze gefeiert – da setzt der Irrtum ein. Gewalt beginnt nicht erst, wo Menschen im Namen von Religion andere töten wollen. Auch Schläge in Erziehung und Ehe säen Gewalt, auch das Propagieren von Geschlechterapartheid, der Exklusivitätsanspruch einer Religion, das Ablehnen von Rechtsstaat und Demokratie oder der Glaube, andere vor einem gottlosen Leben retten zu müssen: All das repräsentiert Facetten struktureller Gewalt, die der physischen vorgelagert und deren Bedingung ist.
Leider benutzen manche muslimische Organisationen die aktuelle Debatte, um Salafisten als alleinige Sündenböcke für radikale Tendenzen im Islam verantwortlich zu machen. Nicht selten täuschen sie damit darüber hinweg, wie radikal sie teils selber sind. Der Salafismus muss als Phänomen erkannt werden. Diese Spielart der Religiosität gießt weit verbreitetes Islamverständnis in eine extreme Form und bietet diese Variante auf dem Markt der konkurrierenden Kulte an.
Wer den wachsenden Salafismus in Deutschland bekämpfen will, muss sich kritisch und differenziert mit ihm auseinandersetzen. Leider scheuen manche muslimische Organisationen genau davor zurück – als hätte ein Ausläufer des Bannes sie schon erreicht. Insgeheim bewundern viele die „konsequenten und starken Moslems“, als die sie die Salafisten ansehen.
Rechtspopulisten begrenzen sich auf repressive Ausweisungspolitik. Im linken Spektrum der Gesellschaft zeigt man sich konfliktscheu und führt man das Phänomen von radikalen Muslimen allein auf die erfahrene Diskriminierung und Ausgrenzung zurück.
Eine Salafismusdebatte muss eine Debatte über Werte sein, über das Vermitteln und Stärken von Demokratie. Sie muss angstfrei und tabufrei initiiert werden und auch innerislamisch geführt werden. Gebraucht wird eine demokratiefähige Islaminterpretation mit klaren Positionen im Hinblick auf unser Grundgesetz. So und nur so finden Muslime in der Demokratie zur nötigen Freiheit der Auslegung islamischer Glaubensinhalte.
[:]AHMAD MANSOUR
Der Psychologe und Islamismusexperte Ahmad Mansour ist ein gebürtiger palästinensischer Israeli. Er arbeitet für die Gesellschaft Demokratische Kultur in Berlin. Dort betreut er in der Beratungsstelle HAYAT unter anderem Angehörige von Jugendlichen, die sich radikalen Salafisten angeschlossen haben. Hayat ist ein Partner vor Ort des Bundesamts für Migration und Flüchtlinge. Er ist außerdem Programm Direktor der European Foundation for Democarcy. Mansour war bis 2013 Mitglied der Deutschen Islamkonferenz. 2015 erschien sein Buch Generation Allah: warum wir im Kampf gegen religiösen Extremismus umdenken müssen.